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Von singenden Finnen und blauen Ballonen

Als der Boxer Nikolai Sergejewitsch Walujew am 20. Jänner 2007 die Bühne der Basler St. Jakobshalle betrat, wütete ein Dämon durch das Publikum. Ein ganz grosser. Der bärige Russe ging den Gangway herunter wie ein fleischgewordener Terminator. Sein Amerikanischer Kontrahent würde heute ein gutes Pfund auf die Fresse kriegen, soviel war klar. Und hätte Walujews Präsenz nicht schon gereicht, wurde das Publikum auch noch musikalisch aufgeheizt.

„This is the end, you know, Lady the plans we had went all wrong…“

Kawumm! Wer zum Geier waren diese abartigen Rocker auf der Bühne? Ich sah rüber zu Blickleser R.M. (Name dem Schreiberling wohlbekannt), auch er schien absolut begeistert ob der gezeigten Darbietung dieser unbekannten Herren. Smartphones, Shazam, alles noch Fremdworte zu dieser Zeit. „Sunrise Avenue“ hiessen die Burschen, eine junge Band aus Finnland. Mal was Neues. Blind holte ich mir deren Debütalbum „On the way to wonderland“ und ja, war nicht wirklich negativ überrascht. Die Überhymne „Fairytale gone bad“ prangte über allem. Auch „Forever Yours“ hatte was. Der Rest der Platte war netter Poprock. Nicht weniger, nicht mehr.

„Fairytale gone bad. Dieser Song, der war plötzlich da. Und ich dachte, da kommt ein Riesending auf uns zu. Und dann kam einfach… NICHTS“, so Blickleser R.M. Irgendwie wahr, denn „Sunrise Avenue“ verschwanden auch von meiner Bildfläche. Das Album wanderte ins Regal. Finito.

Meine Freundin machte mir jedoch bewusst, dass diese Band noch immer existiert. Und wie. Einige weitere Alben sind erschienen. Eine Big Band Tour (sinnigerweise „The Big Band Theory“ genannt) haben die Nordländer auch hinter sich. Der Song „Hollywood Hills“ kam ebenfalls ziemlich gross raus und ist für mich kurz vor jedem Abflug von LAX Pflichtprogramm. Nun, als guter Partner der ich sein will, begleite ich meine Freundin selbstverständlich gerne an Konzerte. Im Gegenzug schleppe ich sie ja auch an Konzerte von Gaslight Anthem, Dave Hause oder Springsteen. Nur fair, gehe ich mit ihr zu den Finnen.

Vor einem Jahr spielten Haber und Band noch in der Maag Event Hall, welche damals auch nicht brechend voll war. Und nun ging es ab ins Hallenstadion Zürich. Wie kam dieser Aufstieg in den Olymp der Schweizer Konzerthallen zustande? Nun, man kann es nicht beweisen aber Samu Habers Mitwirken bei „The Voice of Germany“ machte die Band natürlich in grossem Stil bekannt. Von der sympathischen Nischenband ab in den Ultrakommerzteich. Das Publikum war bunt durchmischt, doch die richtigen Rocker, die Alternativen, die Punks, die gab es nicht zu sehen. Dafür viele Mutter-Tochter-Gespanne, viele Girlies, viele Teenies und auch die weibliche Ü40/Ü50-Hausfrauenfraktion war gut am Start. Sunrise Avenue, das neue Modern Talking?

In der Halle beobachteten wir, wie die Swiss Crew, so nennt sich der Schweizer Sunrise Avenue-Fanclub, blaue Ballone im Saal verteilte. Die Aktion wurde breit auf Facebook geplant. „Ich chum am 2!“, „Ich scho am 10ni, juhuiii“, „ich bring 500 Ballööön!“, gerne hätte ich just for Fun geantwortet „Und ich mach für alli Rüeblitorte“.

Jedenfalls, als ich in der Halle die Verteildame darauf Ansprach, ob blaue Ballone nicht ein wenig peinlich wären an einem Rockkonzert, erwiderte mir diese nur „Nei, sie passe zum Lied Lifesaver“. Ich fühlte mich hart deplatziert und hilflos. Als hätte man mich mit 14‘000 Kleinkindern alleine in einen grossen Raum gesperrt. Man stelle sich vor, Springsteen spielt „The River“ und das Publikum versucht mit blauen Ballonen den Fluss zu imitieren. Unglaublich. Billie Joe Armstrong würde aufhören zu spielen und von der Bühne kotzen, würden blaue Ballone an einem Green Day-Konzert auftauchen.

Das Konzert ging flüssig über die Bühne, 93 Minuten und die Sache war gegessen. Haber präsentierte eine Setlist, welche das neue Album praktisch komplett abdeckte. Offen bleiben Fragen. Warum weigern sich Sunrise Avenue standhaft eine richtige Rockband zu sein? Es gab an diesem Konzert dreissig Sekunden, da rockten die Finnen so richtig. Haber und Gitarrist Riku fetzten los als gäbe es kein Morgen mehr. Dreissig Sekunden. Wollen die Finnen den wirklich nur von Girlies und Hausfrauen angehimmelt werden? Keinen Bock richtig tiefgründige Musik zu machen, die weit über Texte wie „Don’t be afraid of the midnight, baby“ hinausgeht? Sunrise Avenue ist eine Ansammlung von extrem begnadeten Musikern, die jedoch ihr Potential nicht abrufen.

Mein Tipp an die Band. Gebt euch mal eine Runde was auf die Mütze, damit ihr nicht stets wie aus dem Ei gepellt ausschaut. Richtige Rocker haben Narben. Und dann überlegt mal, was im Leben wirklich wichtig ist, was euch bewegt, was in der Welt vor sich geht. Trauer, Abschied, Wut, Angst vor Arbeitslosigkeit, Globalisierung, ein sterbender Planet, es gibt hunderte von Themen. Tut euch zusammen mit einem Produzenten wie Brendan O’Brien, nehmt euch ein Jahr Auszeit, hört auf mit diesen Mini-Touren, und schreibt, schreibt, schreibt. Nicht Massenware. Songs mit Qualität. Dann habt ihr die Chance richtig gross zu werden. Es würde mich freuen.

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Autor: Dominik Hug

Mitdreissiger. Basler. Auch im Erfolg stets unzufriedener FCB-Fan. Filmkritiker. Leidenschaftlicher Blogger. Strassensportler. Apple User. Hat eine Schwäche für gute Düfte. Liest eBooks. Hört gerne Rockmusik. Fährt einen Kleinstwagen. Geht gerne im Ausland shoppen. Herzkalifornier. Hund vor Katze. Hat immer eine Sonnebrille dabei. Gelegentlicher XBox-Zocker. Hat 2016 überlebt.

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